Wo ringsum Wonnen blühn und Wein,
Der Berg, er heißt der Wunnenstein.
Es mag auf segensreichre Auen
Im Schwabenlande keiner schauen.
Ein Kirchlein in vergangner Zeit
Stand dort, Sankt Michael geweiht;
Das trug ein Glöcklein, gar ein feines,
Wie das, so klang im Lande keines.
Denn seit das Glöcklein oben hing,
Kein Hagel rings mehr niederging,
Die grimmen Wetter schwarz und bange,
Sie brachen sich an seinem Klange.
Von Wunnenstein ein Herr einst war
Zum heilgen Land gezogen dar,
Hieb manchen Heiden aus dem Bügel,
Das Heilthum baut er auf den Hügel.
Zum Berge nach dem Gotteshaus
Sah mancher Ort mit Neid hinaus
Der gnadenreichen Glocke wegen
Mit ihrem kräft’gen Wettersegen.
Heilbronn zumal, die reiche Stadt,
So nur gemeine Glocken hat;
Der Kaufherrn Trachten stund und Sinnen,
Wie dieses Kleinod zu gewinnen.
Ein Kloster hinter’m Berge ruht,
Das Kirchlein stund in seiner Hut.
Zum Frauenstifte Boten liefen
Mit schlauem Gruß und schlauern Briefen.
Drin stund: Aebtissin, fromme Fraun,
Wollt uns das Glöcklein anvertraun;
Mögt ihr am ehrnen Klang euch laben?
Und könnt dafür doch goldnen haben!
Mit Kranz und Band vom Wunnenstein
Was zieht dort in das Land hinein?
Ein langer Zug mit Roß und Wagen,
Das Glöcklein nach Heilbronn zu tragen.
Und als der Zug am Thor erschien,
Das Volk umdrängt, umjubelt ihn,
Und als die Glocke hing im Thurme,
Da schwoll der Jubel gar zum Sturme.
O schaut, o schaut! von Westen her
Zieht ein Gewitter schwarz und schwer.
Was hat das Wetter viel zu sagen?
Braucht ja die Glock nur anzuschlagen.
Schon ziehn am Strang wohl ihrer drei:
Die Glocke schwankt und schwinget frei,
Sie läßt sich ziehn und läßt sich schwingen,
Zum Läuten doch sich nimmer zwingen.
Und zogen ihrer neun am Strang;
Die Glocke gab nicht Einen Klang;
Sie ließ sich ziehn, sie ließ sich schwingen,
Zum Läuten doch sich nimmer zwingen.
Sie sah wohl nach dem Gotteshaus,
Nach dem geliebten Berg hinaus.
Ach, in den fremden, kalten Mauern
Wie mußte sie vor Heimweh trauern!
Ob all den schwarzen Dächern hier
Die Brust vor Erz zersprang ihr schier,
Sie mochte keinen Laut mehr geben
Und schied am liebsten aus dem Leben.
Und sie gebot dem Wetter nicht.
Der Hagel rauscht in Strömen dicht,
Dazwischen zucken grelle Flammen,
Als sengten sie die Stadt zusammen.
Die Bürger, wie sie solches sahn,
Ein jäher Schrecken kam sie an:
Dem Himmel, klar ists an der Sonnen,
Mißfiel die List, die sie gesponnen.
Und als der Morgen schien ins Thor,
Was meint ihr, kam daraus hervor?
Zwölf Pferde ziehen einen Wagen,
Der Wagen muß ein Glöcklein tragen.
Die Thiere quälten sich gar sehr,
Fast schien die Last für sie zu schwer;
Als sie des Berges Fuß gewannen,
Da mochten kaum sie mehr von dannen.
Da halfen Peitsche nicht und Ruf,
Es schlug den Grund umsonst ihr Huf:
Doch was zwölf Rosse nicht bezwungen,
Zween Stieren ist es leicht gelungen.
Da schirrt ein ackernd Bäuerlein
Gar freudvoll statt der Mäuler ein,
Und sieh, zu Berge schritten beide
In muntern Sprüngen, wie zur Weide.
Sie trabten mit der blanken Last,
Als ob sie solcher ledig fast.
Nicht lang, so sah die Glocke wieder
Hoch oben von dem Berge nieder.
Als dort sie hing, dem Himmel nah,
Von selbst vor Luft erklang sie da,
Das klang wie holde Himmelskunde
In alle Hütten in der Runde.
Verwaist nun steht der Wunnenstein.
Wer weiß, wo mag die Glocke sein?
Doch hört wer Acht hat, oft ein Singen
Wie fernen Glockenlaut erklingen.
Die Ballade „Glockenheimweh“ des Stuttgarter Regierungsbeamten und Dichters Karl Doll (1834–1910) stammt aus seinem 1883 herausgegebenen Band „Schwäbische Balladen“, in dem er seine zahlreichen Sagenballaden gesammelt herausgegeben hat.
Schauplatz der hier vorgestellten Sage ist der Wunnenstein, ein 393 Meter hoher Berg in der Nähe des Großbottwarer Stadtteils Winzerhausen. Er bildet eine weithin sichtbare Landmarke und trennt das südlich gelegene Bottwartal im Landkreis Ludwigsburg vom Schozachtal, dessen Orte dem Landkreis Heilbronn angehören. Hier befand sich bis zur Reformation eine der ersten Kirchen der Umgebung, welche dem heiligen Michael geweiht war. Östlich der Michaelskirche entstand im hohen Mittelalter die Burg Wunnenstein, Das gleichnamige Geschlecht ist vor allem bekannt durch Wolf von Wunnenstein, dem Uhland in seinem Balladenzyklus „Graf Eberhard der Rauschebart“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
In der Folge entwickelte sich der Wunnenstein im 19. Jahrhundert zu einer Art vaterländischer Gedenkstätte. Schon vier Jahre nach Uhlands Gedichtband erschien 1819 ein Reiseführer mit dem Titel „Der Wunnenstein bei Winzerhausen. Ein Beitrag zur Topographie und Geschichte Würtemberg.“ Hinter dem anonym herausgegebenen Bändchen stand der Winzerhäuser Pfarrer F.A. Scholl. Auf dessen Initiative wurde zudem im Jahr 1823 eine Aussichtsplattform auf den Resten des alten Kirchturms errichtet. Fortan begaben sich zahlreiche Besucher zum Wunnenstein, darunter war 1825 sogar König Wilhelm I.
Scholl war der erste, der die Sage vom der vor Unwetter schützenden Glocke und ihrem Verkauf nach Heilbronn veröffentlichte. Die Stiftung der Kirche durch den vom Kreuzzug heimkehrenden Ritter erwähnte er jedoch mit keinem Wort. Diesen Teil der Sage hat wohl erst der Pfarrer und Lokalhistoriker Karl Friedrich Jäger in seinem 1824 erschienenen „Handbuch für Reisende in den Neckargegenden“ hinzugedichtet. Von dort gelangte der Stoff dann in Ernst Meiers Sammlung „Deutsche Sagen, Sitten oder Gebräuche aus Schwaben“ von 1852, die wiederum Karl Doll als Quelle für seine Ballade angab.
Von der Sage existiert noch eine weitere lyrische Version, Gustav Schwabs 1821 erschienene Ballade „Die Glocke vom Wunnenstein“. Schwab stütze sich offenbar auf die Scholl’sche Variante der Sage, denn bei ihm fehlt die Kreuzzugsepisode. Die Verwendung des Kreuzzugmotivs in der Sage ist ein typisches Beispiel für die Blüten, welche die Mittelalterbegeisterung im 19. Jahrhundert trieb. Gehegt und zelebriert wurde diese wohl eher von gebildeten Autoren wie Jäger als vom Winzerhäuser Landvolk.
Der eigentlich „wahre Kern“ – wenn man es so nennen will – der Glockensage ist die Tatsache, dass der Wunnenstein eine Art Wetterscheide bildet und die Gemarkung Winzerhausen tatsächlich selten von Hagel heimgesucht wird. Dies hat schon die Marbacher Oberamtsbeschreibung 1866 erwähnt.
Ausführliche Erläuterungen
Jiří Hönes – Karl Doll: Glockenheimweh (2014, überarbeitete Fassung 2017)
[PDF]
Zum Autor
Jiří Hönes – „Ein Sänger des Schwabenlandes“ – der Dichter und Sagensammler Karl Doll (2014, überarbeitete Fassung 2017)
[PDF]
Downloads
Karl Doll: Glockenheimweh
[PDF]
F.A. Scholl: Der Wunnenstein bei Winzerhausen (Auszug)
[PDF]
Gustav Schwab: Die Glocke vom Wunnenstein
[PDF]
Karl Jäger: Die Glocke auf der Burg Wunnenstein
[PDF]
Ernst Meier: Die Glocke auf Wunnenstein
[PDF]
Links
Karl Doll: Online-Werkausgabe
Wikipedia: Karl Doll
Quelle
Karl Doll: Schwäbische Balladen.
Druck und Verlag von W. Kohlhammer.
Stuttgart 1883.
S. 102–106.
[Internet Archive]
Über Karl Doll ist im Juni 2014 beim Kreisarchiv Calw mein Buch „‚Tief unten zieht die grüne Nagoldwelle…“ – Karl Doll. Leben und Werk, Sagen und Sonette“ erschienen. Neben einem ausführlichen biografischen Abriss und der Würdigung seines dichterischen und volkskundlichen Werks enthält es die kompletten „Sonette aus Calw“ und „Sonette vom Schwarzwald“ sowie die Sagensammlung aus der „Alemannia“.
Das Buch ist erhältlich beim Kreisarchiv Calw oder im Buchhandel.
Der biografische Teil dieses Beitrags ist auch auf den gesonderten Seiten über Karl Doll erschienen. Dort finden sich zudem alle seine bislang bekannten lyrischen und volkskundlichen Veröffentlichungen in Form von Transkriptionen und/oder Faksimiles.