Wer sitzt im warmen Stübchen?
Ein Mädchen und ein Bübchen,
Großmutter sitzt und spinnt,
Läßt sich ein Weilchen quälen,
Bis daß sie zu erzählen
Mit leisem Mund beginnt:
* * *
War einst ein Hirtenknabe,
Der nannt’ als einz’ge Habe
Ein junges Gänschen sein,
Doch ach! vor Baden’s Thoren
Hat sich das Thier verloren
Zu Hansen’s bitt’rer Pein.
Er rennt von Ort zu Orte,
Er klopft an jede Pforte,
Kehrt hoffnungslos zurück,
Verloren bleibt sein Gänschen
(O Hänschen, armes Hänschen!)
Verloren all’ sein Glück
Und bei der Murg Gestaden
Hin sinkt er mühbeladen
Und klagt des Herzens Noth
Den Wellen und den Winden:
„Läßt sich die Gans nicht finden,
So wein’ ich mich zu Tod’!“
Da kommt ein bucklig Männchen,
Nicht höher als drei Spännchen,
Vom grünen Berg herab
Und spricht: „Nach Gernsbach wand’re
Und stiehl dir eine and’re,
Du dummer Hirtenknab.“
Doch Hänschen sagt: „Mit nichten
Mag ich das Ding verrichten,
Die Ehr’ ist mir zu lieb,
Viel eher wollt’ ich laufen,
Mein letztes Hemd verkaufen,
Als daß ich würd’ ein Dieb!“
Kaum war dies Wort gesprochen,
Hat lachend sich verkrochen
Der kleine Schelm, der Zwerg;
Ein Gagagg tönt vernehmlich,
Husch, husch, da schlüpft bequemlich
Das Gänschen aus dem Berg.
Vor Freuden tanzt mein Hänschen,
Und flügelnd setzt das Gänschen,
Sein heit’res Gagagg fort;
Bald flog durch’s Thal die Kunde,
Und von derselben Stunde
Heißt Gaggenau der Ort.
* * *
Das Mädchen und das Bübchen
Im traulich warmen Stübchen
Sind seelig eingenickt.
Großmutter sitzt im Stuhle,
Sie sitzt und dreht die Spule
So fleißig und geschickt.
Eduard Brauers lyrische Version der Gaggenauer Ortsnamensage erschien 1845 in seiner Sammlung „Sagen und Geschichten der Stadt Baden im Großherzogthum und ihrer näheren und entfernteren Umgebungen in poetischem Gewande.“ Als Quelle gab er die 1834 bei Johann Velter in Karlsruhe anonym herausgegebenen „Sagen aus Baden und der Umgegend“ an. Dort war die „eben nicht sehr sinnreiche Sage“ in schlichter Prosa abgedruckt.
In Anlehnung an die einleitenden Worte aus seiner Quelle schrieb Brauer in den Anmerkungen zu seiner Ballade, es handle sich um eine „freilich weder sinnreiche noch poetische Sage“ Zur dichterischen Ausgestaltung derselben bemerkte er: „Sie ist im Gewand eines Kindermährchens, das sich wohl allein für sie schickt, etwas ausgeschmückt hier wiedergegeben.“ Brauers Ausschmückung bestand vor allem in der Begegnung mit dem „bucklig Männchen, / Nicht höher als drei Spännchen“, welches in der Prosasage nicht vorkommt.
Die Ballade wurde später in zahlreichen weiteren Sagenbüchern abgedruckt. Der Dichter Augst Schnezler nahm sie 1856 in sein „Badisches Sagen-Buch“ sowie 1847 in seine Sammlung „Aurelia’s Zauber-Kreis. Die schönsten Geschichten, Sagen und Legenden der Stadt Baden und ihrer nachbarlichen Thäler und Bergschlösser nebst einem Märchen-Cyclus vom Mummelsee“. In Brauers eigener Balladensammlung „Badische Sagenbilder in Lied und Reim“ von 1858 durfte sie natürlich auch nicht fehlen.
Eine weitere Prosaversion der Sage erschien 1851 in Bernhard Baaders „Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden“ unter dem Titel „Gaggenaus Name“.
Ausführliche Erläuterungen
Jiří Hönes – Eduard Brauer: Gaggenau (2014, überarbeitete Fassung 2017)
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Zum Autor
Jiří Hönes – Sagenbilder in Lied und Reim – der badische Dichter Eduard Brauer (2014, überarbeitete Fassung 2017)
[PDF]
Downloads
Gaggenau (Sagen und Geschichten der Stadt Baden im Großherzogthum und ihrer näheren und entfernteren Umgebungen in poetischem Gewande)
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Gaggenau (Badisches Sagen-Buch)
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Anonymus: Gaggenau (Sagen aus Baden und der Umgegend)
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Bernhard Baader: Gaggenaus Name
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Links
Wikipedia: Eduard Brauer
Wikisource: Eduard Brauer, Quellen und Volltexte
Quelle
Eduard Brauer (Hrsg.): Sagen und Geschichten der Stadt Baden im Großherzogthum und ihrer näheren und entfernteren Umgebungen in poetischem Gewande.
G. Braun’sche Hofbuchhandlung.
Karlsruhe 1845.
S. 60–61.
[Google Books]