Ludwig Egler: Das Reich der Sage

Es war ein Frühlingsabend. Sanft erglühte
  Der Himmel in der Sonne Rosenpracht.
Ich ging im Walde, der im Mai erblühte,
Mit stiller Lust erbauend mein Gemüthe
  In seiner ahnungsvollen Schattennacht.
Aus duftigem Gezweige wehten nieder
Der muntern Waldessänger Erstlingslieder.

So stieg ich denn im Hauch der Abendlüfte
  Den Berg hinan, den gold’nes Licht umfloß,
Und athmete die süßen Kräuterdüfte
Am Waldbach, der sich donnernd in’s Geklüfte
  Im Silberschaume über Felsen goß.
Mir war, als ob aus den verborg’nen Tiefen,
Wie Geisterlaut, geheime Stimmen riefen.

Und weiter ging ich auf verschlungnen Wegen,
  Da, in der stillen Waldeseinsamkeit,
Sah ich die Zweige flüsternd sich bewegen –
Und eine Jungfrau trat mir hold entgegen
  Im Kleide ältester Vergangenheit.
Sie grüßte mich und blieb vertraulich stehen,
Als hätte sie mich längst und oft gesehen.

Und ich auch hab’ die Liebliche gefunden,
  Als hätt’ ich oft geschaut ihr Angesicht,
Wenn in dem Kreise stiller Weihestunden
Zu mir gesprochen grauer Vorzeit Kunden,
  Wie Waldesrauschen in dem Abendlicht.
Und horch! Sie lispelte: „Ich bin die S a g e ,
Die treue Tochter längst vergang’ner Tage.“

„Komm in mein Reich, die Wunder, die ihm eigen,
  Sie seien alle deinem Blick enthüllt,
Du sollst mit m i r des Berges Höh’ ersteigen,
Der ganzen Vorzeit Bild will ich dir zeigen,
  Gewiß von Freude wird dein Herz erfüllt.
Und was gescheh’n vor grauen Sturmesjahren
Im Heimathland will ich dir offenbaren.“

Wie gerne bin ich mit ihr hingegangen,
  Von seltener Erwartung angeregt,
Zerflossen war des Purpurlichtes Prangen
Im Dämmerschein, und aus dem Thale klangen
  Die Abendglockenhalle, sanft bewegt
Vom Hauch des Westes, der die Fluren kühlte
Und in der Bäume Blätterkronen spielte.

Die waldesdüstern Räume wurden freier;
  Da leitete der Felsenpfad empor
Zu eines Schlosses stattlichem Gemäuer,
Rings prangend in des Epheu’s Frühlingsschleier,
  So malerisch. Wir traten durch das Thor.
Da führten lange Gänge, halbzerfallen,
Uns in des Rittersaales Marmorhallen.

Ich staunte an die Rüstungen, die alten,
  Wie einst im Kampf sie trug der kühne Held.
Als würde Leben noch in ihnen walten,
So sah’n auf mich die riesigen Gestalten
  Der Ritterbilder, die da aufgestellt.
Ich schaute auch die Helden des Gesanges
Mit ihren Harfen, einst so vollen Klanges.

Es hielt mein Geist beglückt an diese Orte,
  Von ahnungsvoller Weihe sanft beführt;
Da mahnt die Führerin mit leisem Worte
Zu folgen ihr. Sie öffnet eine Pforte,
  Und in das Freie wurde ich geführt,
Allwo sich mir, von selt’nem Licht umflossen,
Die wundervollste Landschaft aufgeschlossen.

„Das ist mein Reich,“ hub freundlich an die Sage,
  „O, nur im Lied aus meinem Herzen spricht
Die tiefe Liebe, die ich zu ihm trage.
Sieh an die Herrlichkeiten alter Tage,
  Erstrahlend, wie der ew’gen Sterne Licht;
Was sich der heut’gen Welt nur zeigt in Trümmern,
Das siehst du hier in alter Größe schimmern.“

„Sieh, deine Heimath in dem Prachtgewande
  Des Alterthumes ist sie hier zu schau’n!
Noch ragen ihre Burgen in die Lande,
Hoch über Klöstern, die vom Hügelrande
  Wie Engel lächeln in die Blüthenau’n.
Die Felsen glüh’n im abendrothen Glanze
Aus dunkler Wälder maienfrischem Kranze.“

Entzückt sah ich in die verklärte Runde,
  Auf deren Wunder mich die Sage wies,
Indessen ich vernahm aus ihrem Munde
Voll süßem Reiz gar manche schöne Kunde
  Der alten Zeit, die sie mir feiernd pries.
U n d  w a s  s i e  m i r  e r z ä h l t ,  h i e r  b r i n g ’  i c h ’ s  w i e d e r
G e t r e u  d e r  H e i m a t h  z u  d u r c h  m e i n e  L i e d e r .  –


„Das Reich der Sage“ eröffnete die im Jahr 1861 erschienene lyrische Sagensammlung „Aus der Vorzeit Hohenzollerns“ des Hechinger Dichters, Redakteurs und Seifensieders Ludwig „Louis“ Egler und soll nun auch zur Eröffnung dieses Blogs dienen. Keine Sagenballade im eigentlichen Sinne, gibt das Auftaktgedicht doch einen tiefen Einblick in das Sagenverständnis, das im 19. Jahrhundert vorherrschte.

Egler verklärte die Sage zu einer historischen Quelle, aus „der ganzen Vorzeit Bild“ spricht und die offenbart, „was gescheh’n vor grauen Sturmesjahren“. Seine Ballade ist übervoll von Ritter- und Vorzeit-Klischees, wie sie durch die Romantik – und ebenso durch triviale Ritterromane – grundgelegt wurden. Die personifizierte Sage, die ja selbst schon im „Kleide ältester Vergangenheit“ auftritt, führt ihn in ein Schloss, in „des Rittersaales Marmorhallen“, wo Rüstungen zu bestaunen sind, die einst „der kühne Held“ im Kampf trug.

Zudem zeigt „Das Reich der Sage“ beispielhaft, wie seinerzeit der Grundstein dafür gelegt wurde, Sagen patriotisch als Teil der Heimat anzusehen, welche Dank der Sage im „Prachtgewande des Alterthumes“ erscheint. Burg- und Klosterruinen werden durch sie mit Leben gefüllt, sie lässt die „Herrlichkeiten alter Tage“ in „der ew’gen Sterne Licht“ erstrahlen. Schwärmerisch-verklärend wird die Sage hier zur Stifterin von Nationalgefühl und Identität erhoben.

Ausführliche Erläuterungen

Jiří Hönes – Ludwig Egler: Das Reich der Sage (2012, überarbeitete Fassung 2017)
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Zum Autor

Jiří Hönes – Ludwig Egler – Seifensieder, Kommunalpolitiker, Redakteur und Dichter aus Hechingen (2012, überarbeitete Fassung 2017)
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Downloads

Das Reich der Sage (Aus der Vorzeit Hohenzollerns)
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Das Reich der Sage (Mythologie, Sage und Geschichte der Hohenzollernschen Lande)
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Schlußwort (Aus der Vorzeit Hohenzollerns)
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Schlußwort (Mythologie, Sage und Geschichte der Hohenzollernschen Lande)
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Links

Wikipedia: Ludwig Egler

Wikisource: Ludwig Egler, Quellen und Volltexte

Quelle

Ludwig Egler: Aus der Vorzeit Hohenzollerns. Sagen und Erzählungen.
Verlag von L. Tappen.
Sigmaringen 1861.
S. 1–4.
[Google Books]


Der Artikel ist zudem 2015 in den „Heimatkundlichen Blättern Zollernalb“ erschienen.

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