Karl Gerok: Die Weinberghalde zum Sünder

Nach einer Stuttgarter Chronik
2. Jun. 1339


Die Morgensonne, sie flimmert so hell,
Das Sünderglöcklein es wimmert so grell,
  Es kommen die Leute zu Haufen
  Durch Stuttgarts Gassen gelaufen.

Dem Rugger gilt es, dem jungen Blut,
Schad ists um des Junkers adligen Muth,
  Mit seinen gelbkrausen Haaren,
  Mit seinen zwanziger Jahren.

Er trug den Kopf auf den Schultern so keck,
Auch trug er das Herz auf dem rechten Fleck,
  Doch der Zorn und der Wein und die Minne
  Die brachten ihn leider vom Sinne.

Im Adelberghof gabs fröhlichen Schall,
Da schlugen die Junker und Knappen den Ball,
  Es standen die Jungfern und Frauen,
  Am Gatter das Spiel zu beschauen.

Und die schönste darunter, des Loselins Kind,
Die hat der Rugger im Herzen geminnt,
  Der wollt’ er im Spiele vor allen
  Als rüstiger Kämpe gefallen.

Doch der Weißenburger, der zierliche Fant,
Der schlug den Ball mit geschickterer Hand,
  Macht dreimal den Rugger zu Schanden,
  Daß er schlecht vor der Liebsten bestanden.
 
Und die schalkische Hilde mit rosiger Hand
Lustpatschte dem Sieger, dem Rugger zur Schand,
  Drob ist ihm vor grimmigem Grollen
  Das Herz im Leibe geschwollen.

Hinschmiß er den Ball und den Schläger ins Eck
Und hub sich in zornigem Muthe vom Fleck,
  Lief hin, beim Wirthe zur Ilgen
  Den Gift im Weine zu tilgen.

Da sieht er vom Fenster die zierliche Maid
Durchs Gäßlein gehn in des Junkers Geleit,
  Ihr lustiges Lachen und Scherzen
  Das grub ihm wie Messer im Herzen.

Stumm trank er, da kam auch sein Spielkumpan:
„Sei kein thörichter Wenzel und klinge mit an!“
  Weg stieß der Erboste die Kannen
  Und stürzte verwildert von dannen.

Und am Pförtlein paßte er mit nackender Wehr,
Der Junker kam pfeifend die Stiege daher,
  Kein Wort hat der Rugger gesprochen,
  Die Klinge durchs Herz ihm gestochen.

Drei Tage, so saß man zum Blutgericht,
Da bekannt’ er die That und leugnete nicht;.
  Sie haben das Stäblein gebrochen,
  Das Haupt ihm vom Halse gesprochen.

„Und muß ich denn sterben, ihr lieben Herrn,
Um eins noch bitt’ ich, das gönnet mir gern:
  Nicht am Markt, – auf grünender Haiden
  Laßt den bitteren Tod mich erleiden.

Am Gabelberg liegt mir mein Ahnengut,
Da laßt mich verspritzen mein junges Blut,
  Wo mein Vater den Wingert gebauet,
  Wo vom Berge die Stadt man erschauet.

Zwar steil ist der Steig und der Weg ist lang,
Drum gönnt mir die Labe zum letzten Gang,
  Vom eignen Gewächse, vom Rothen
  Sei dreimal ein Trunk mir geboten!

Und sterb’ ich der Letzte vom alten Geschlecht,
So stift’ ich den Wingert zum ewigen Recht:
  Daß jeglichem Sünder vom Rothen
  Der Letztunk werde geboten!“ –
 
Und wie sie ihn führten zum Thore hinaus,
Da trank er zum ersten am Thorwartshaus,
  Zum zweiten am Steig in der Mitten
  Und oben am Berge zum dritten.

Drauf kniet er, ihn segnet der Beichtiger ein,
Dann setzt er sich nieder aufs Mäuerlein,
  Wo sein Vater den Wingert erbauet,
  Wo vom Berge die Stadt man erschauet.

Die Sonne am Himmel sie flimmert so hell,
Das Glöcklein im Thale es wimmert so grell,
  Und die Stadt und die Berg’ und die Auen,
  Sie sind so wonnig zu schauen.

Und der Rugger schauet zum letztenmal
Die Halde hinunter ins grünende Thal:
  „O du Stadt, o du Welt, o du Leben,
  Valet nun muß ich dir geben!“

Und er wendet sein Haupt zu dem Volk im Rund,
Sagt den Freunden Ade mit zuckendem Mund:
  „Ihr Brüder, nun geht es zum Scheiden,
  Den bitteren Tod muß ich leiden!“

Und er schauet zum leuchtenden Himmel hinauf:
„Herr Christ, nun nimm mich zu Gnaden auf,
  Und opfr’ ich den Leib dir im Sterben,
  So laß nicht die Seele verderben!“

Vorbeugt er den Hals und das Ritterschwert blitzt,
Und ihm rollet sein Haupt in den Schoß wie er sitzt,
  Und langsam ist er wie trunken
  Ins Gras und die Blumen gesunken.

Im Weinberg droben am Mäuerlein
Noch kündet die Mär ein verwitterter Stein,
  Und auf Kinder und Kindeskinder
  Benennt man die Halde „zum Sünder.“

Wer hat uns dies Liedlein vom Rugger gemacht?
Ein Schreiber von Stuttgart hat es erdacht,
  Saß gestern droben am Steine
  – Mutterseelenalleine. –



Die Ballade von der „Weinberghalde zum Sünder“ wurde erstmals 1883 in dem von Carl Weitbrecht und Eduard Paulus herausgegebenen „Schwäbischen Dichterbuch“ veröffentlicht. Ihr Verfasser war der seinerzeit weitbekannte Stuttgarter Oberhofprediger, Prälat und Dichter Karl Gerok, den man gern auch die „Schwäbische Nachtigall“ nannte.

Die zugrunde liegende Sage stammt aus der berüchtigten Stuttgarter „Stadt-Glocke“, ein zwischen 1844 und 1848 herausgegebenes Blatt des Stuttgarter Buchdruckers und Stadtrats Johann Gottfried Munder, das Unterhaltung und Belehrung in Form von historischen Berichten und Sagen versprach. Die sechs Mal wöchentlich erscheinenden Schrift schien die Stadtbevölkerung mit ihren oft reißerisch aufgemachten Geschichten nachhaltig zu begeistern. Großen Raum nahm stets eine Fortsetzungsgeschichte ein, hinzu kamen kleinere Schwänke, Berichte, Balladen oder Sagen wie etwa die von der Sünderhalde – ein anschauliches Beispiel für die Mittelalterbegeisterung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Was die allermeisten der Berichte aus der „Stadt-Glocke“ gemein hatten: Sie waren frei erfunden. Manche bekannte Stuttgarter Stadtsage hat ihren Ursprung in Munders Blatt, darunter etwa die Geschichte vom zu Unrecht hingerichteten Postmichel.

Beim Schauplatz der Sünderhalden-Sage handelt es sich um ein ehemaliges Weinberggewann in Stuttgart. Die heute dort befindliche Sünderstaffel mit ihren eisernen Geländern wurde um die Jahrhundertwende errichtet. Der Flurname geht nach Helmut Dölker wohl auf einen Personennamen zurück. Noch vorhanden ist der in der Sage erwähnte Stein: Er steht knapp unterhalb der Stafflenbergstraße und trägt die Inschrift „Peccatorum Desiderium Peribit Johanns Broll ff 1564“ (Denn was die Gottlosen [Sünder, d. Verf.] gerne wollten, das ist verloren. Psalm 112,10). Darüber ist ein Totenkopf abgebildet. Ein zweiter Stein, der heute jedoch nicht mehr vorhanden ist, soll den Namen „Johann Ruger“ erwähnt haben. Dieser gab wohl Munder den Anstoß, die Figur seiner Kunstsage „Rugger“ zu nennen.

Karl Gerok hielt sich mit seiner Ballade recht eng an den Originaltext Munders, aus dem er auch das Datum 2. Juni 1339 und einige ungewöhnliche Vokabeln übernommen hat. Sie erschien zwei Jahre später nochmals in seinem Gedichtband „Der letzte Strauß“.

Ausführliche Erläuterungen und Kurzbiografie des Autors

Jiří Hönes – Karl Gerok: Die Weinberghalde zum Sünder (2012)
[PDF]

Downloads

Die Weinberghalde zum Sünder (Schwäbisches Dichterbuch)
[PDF]

Die Weinberghalde zum Sünder (Der letzte Strauß)
[PDF]

Entstehung der Sünderhalde (Stuttgarter Stadt-Glocke)
[PDF]

Links

Wikipedia: Karl Gerok

Wikisource: Karl Gerok, Quellen und Volltexte

Quelle

Eduard Paulus und Carl Weitbrecht (Hrsg.): Schwäbisches Dichterbuch.
Verlag von Adolf Bonz & Comp.
Stuttgart 1883.
S. 59–63.
[ALO]

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