Man sieht zur Nachtzeit manchesmal
Ein Lichtlein hin und her sich winden
Am Berge dort, bald sinkt’s ins Thal,
Bald neigt sich’s zu des Waldes Gründen.
Hoch von der Bergstadt Häusern sieht
Der Blick hinüber, wo der Flimmer
Weit durch das Feld die Streifen zieht
Aufflammernd wie in bleichem Schimmer.
Dort oben stand in alter Zeit
Ein Kirchlein an des Berges Halde,
Der heil’gen Anna war’s geweiht,
Hell glänzend schaut es aus dem Walde,
Wo seitwärts rauh des Thales Schlucht;
Indem’s den Pilgrim freundlich ladet,
Und mancher Waller drinnen sucht
Und findet Frieden hochbegnadet.
Nur Eine nicht, – ja die im Schmerz
Das Kirchlein selbst als Opfer weihte,
Sie fand nicht Frieden für ihr Herz,
Und Gram und Leid war ihr Geleite.
Die Arme, ach, war eine Braut
Von edlem Stamm, der Burg entsprossen,
Vom Krieg den Liebsten sie nicht schaut
Zurückgekehrt mit den Genossen.
Herb hatte sie den Mann gekränkt,
Im Groll war er zum Kampf gezogen,
Da ist’s ihr, als zurück sie denkt,
Sie hätt’s verschuldet, ihn betrogen
Und in den Tod getrieben ihn
Als seine Mörderin; o Frieden
Kam ihr nicht mehr, sie welkt dahin,
Seit er für immer war geschieden.
Wohl tönt’ vom heil’gen Land sein Ruhm,
Eh’ Siechtum seine Kraft verzehrte,
Da weihte sie das Heiligtum
Der Heil’gen, die sie fromm verehrte,
Daß ihre Huld ihn brächt’ zurück,
Und als das Kirchlein war vollendet,
Da trat sie täglich ein, den Blick
In Seelenqual emporgewendet.
Und er kam nicht. Dem Fernen nach
Die Arme sinkt ins Grab, o lange
Hat sie geharrt, und Tag um Tag
Gefleht mit Sehnen heiß und bange.
Wohl sah man später manche Schar
Von Pilgern zu dem Kirchlein wallen
Und bringen fromm die Gaben dar. –
Vorüber ist’s, längst ist’s zerfallen.
Doch ob verweht die Spur ist ganz,
Der heil’gen Anna Namen führet
Noch heut’ der Berg, den Steig ein Kranz
Von thät’ger Bürger Häuser zieret.
Nur wo dereinst das Kirchlein stand,
Da steigt gar oft in nächt’ger Weile
Ein Lichtlein auf, zu Waldes Rand
Kreist’s hin und her, bald fliegt’s in Eile;
Bald! über Furchen, Pfade hin
Schwebt’s ob den Höh’n; mit einemmale,
Als wollt’ es ängstlich matt entflieh’n,
Sinkt es im Ruck hinab zum Thale.
Wie Totenflimmer glänzt der Schein.
Ist es des Fräuleins Geist, der bange
Dort oben suchend irrt allein
Geweckt von heißem Sehnsuchtsdrange?
Sucht sie ihr Kirchlein, ihre Not
Zu legen vor der Heil’gen nieder?
Sucht sie den Bräut’gam noch im Tod,
Daß er Versöhnung bringe wieder?
Und ist’s umsonst, dann hoffnungslos
Sinkt sie im Grund, im Wald verborgen
Aufs neu der Nacht in ihren Schoß,
Eh’ denn aufdämmernd naht der Morgen.
„Das Lichtlein vom St. Annaberge bei Altensteig“ erschien im Oktober 1898 in „Aus dem Schwarzwald“, der Mitgliederzeitschrift des Württembergischen Schwarzwaldvereins. Der Verfasser Julius Hetterich (1842–1914) war bis Anfang des Jahres 1898 evangelischer Stadtpfarrer in Altensteig gewesen und dann nach Sindelfingen gewechselt. Als langjähriges Vereinsmitglied und Gelegenheitsdichter steuerte er hin und wieder Verse und Artikel zu dem Blatt bei.
Die in der Ballade erwähnte St.-Anna-Kapelle ist historisch tatsächlich greifbar. Sie befand sich am Fuße des südlich der Stadt gelegenen Talhangs, der bis heute den Namen St.-Anna-Berg trägt. Die Sage vom „Lichtlein vom St. Annaberge“ ist dagegen mit ziemlicher Sicherheit Hetterichs dichterische Erfindung. Dafür spricht nicht zuletzt, dass er die Lage der einstigen Kapelle falsch angab, indem er schrieb: „Dort oben stand in alter Zeit / Ein Kirchlein an des Berges Halde“.
Da der Autor keinerlei Hinweis darauf gab, dass es sich hier nicht um eine volkstümliche Überlieferung handelte, gingen später andere offenbar hiervon aus. Die Sage findet sich nämlich in anderer Form im Jahr 1925 im „Nagolder Heimatbuch“ von Georg Wagner wieder. Der Studienrat Martin Goes steuerte zu diesem das Kapitel „Sagen und Geschichten aus alter Zeit“ bei, in welchem im Abschnitt „Altensteiger Sagen“ unter der Überschrift „Das Lichtlein auf dem St. Annaberg“ eine inhaltlich exakt identische Sage in Prosa zu lesen ist. Seine Quelle hat Goes allerdings nicht genannt.
Ausführliche Erläuterungen und Kurzbiografie des Autors
Jiří Hönes – Julius Hetterich: Das Lichtlein vom St. Annaberge bei Altensteig (2013)
[PDF]
Downloads
Das Lichtlein vom St. Annaberge bei Altensteig
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Martin Goes: Das Lichtlein auf dem St. Annaberg
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Quelle
Aus dem Schwarzwald 10/1898.
Blätter des Württembergischen Schwarzwaldvereins.
Stuttgart 1898.
[Internet Archive]
Mein herzlicher Dank gilt Herrn Stadtarchivar Fritz Kalmbach (†) für seine ausführlichen Mitteilungen zur St.-Anna-Kapelle und den Hinweis auf das Nagolder Heimatbuch.